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Die Geschichte hat Narben hinterlassen

Eine alte Frau aus Chodziez erzählt - aufgeschrieben von Robert Hülsbusch (1992)

Straßennamen spiegeln die Geschichte wider, häufig das Geschichtsbild der jeweiligen Machthaber oder wie diese es verordnen. Das ist auf der ganzen Welt so - auch in unserer polnischen Partnerstadt Chodziez. Andrzej Skibinski, 42 Jahr alt und Deutschlehrer in Chodziez, führt uns in die Paderewskistraße. Dort sind wir mit seiner Oma Pelagia Piescikowsiki (92 Jahre) verabredet. Sie will uns ihre Geschichte erzählen, will uns davon berichten, was sie in Chodziez in der Zeit von 1939 bis 1945 erlebte.altefrau1

Die Straße, in der Andrzejs Oma wohnt, hieß nicht immer Paderewskistraße. Paderewski war in der 20er Jahren einer der ersten polnischen Ministerpräsidenten. Aus dieser Zeit stammt der Straßenname. 1939 wurde dann daraus die "Lindenallee". Für eine kurze Zeit während der deutschen Besetzung hieß sie sogar "SS-Straße". Danach folgte wieder "Lindenallee", und nach 1945 erhielt die Straße erneut einen anderen Namen: "Rokosowskistraße". Rokosowski war im 2. Weltkrieg General der Roten Armee. Heute erinnert die Straße wieder an den ehemaligen Ministerpräsidenten Paderewski. Wie sicher keine zweite wirft diese Straße in Chodziez ein Licht auf die große Geschichte deutsch-polnischer Beziehungen in den letzten 50 Jahren, erhellt deren leidvolle Vergangenheit. Doch sie schreibt auch Lokalgeschichte. Wie ging es damals den Menschen in dieser Stadt? Was erlebten sie ganz konkret in dieser Zeit?altefrau2

Pelagia erwartet uns schon vor ihrem Haus. "Herzlich willkommen im ehemaligen Hauptquartier der SS in Chodziez!" Stolz ist aus ihrer Begrüßung nicht zu hören, eher Wehmut. Sie zeigt auf die Hauswand. Neben der Hausnummer 12 sind noch Bohrlöcher zu sehen. Hier hatte die SS - für alle sichtbar - ihre Tafel angebracht. Auf dem Dach des Hauses wehte die Totenkopf-Flagge. Doch erst einmal werden wir ins Haus gebeten. Romualda Wozniak, die 66-jährige Tochter der alten Frau, gesellt sich dazu. Beide sprechen Deutsch. "Es war eine schwere Zeit!" Pelagia seufzt und beginnt dann zu erzählen. Trotz ihres hohen Alters erinnert sie sich noch genau - auch an Einzelheiten. Viele Dinge aus der damaligen Zeit haben sich tief in ihr Gedächnis eingegraben - für immer.altefrau3

Vor dem 2. Weltkrieg wohnten viele Deutsche in Chodziez. Deutsche und Polen lebten einmütig und freundschaftlich nebeneinander, auch wenn häufig ihre gesellschaftliche Position sie trennte: "Die Arbeiter waren Polen, die Deutschen waren die Chefs." Unverständlich ist deshalb auch für die alte Frau, daß in den dreißiger Jahren dann auch aus Chodziez einige deutsche Bürger begannen, "Hilferufe" ins Deutsche Reich zu senden: "Kommt und befreit uns! Uns geht es hier schlecht!" Später wurde dann der Kontakt zum Nazi-Reich noch enger. Sehr erschrocken war Frau Piescikowski, als sie 38/39 zum ersten Mal in Nachbarhäusern die Hakenkreuzfahne und Hitlerbilder an der Wand erblickte. Und dennoch rechneten sie nicht mit dem, was sich dann später zutrug. "Mein Mann hatte keine Angst vor den Deutschen. Er vertraute auf die tiefe Freundschaft mit ihnen. Im 1. Weltkrieg war er für Deutschland Soldat gewesen, hatte aus der Zeit auch noch deutsche Papiere. Fast fühlte er sich als Deutscher. Als dann am 1. September 1939 die Deutschen dann doch in Polen einmarschierten, war er völlig überrascht. Er konnte es nicht glauben." Und Pelagia erzählt zunächst weiter von ihrem Mann. Er war damals Vizedirektor der Kreissparkasse in Chodziez. Als die Nazis kamen floh er mit einem Großteil des Geldes der Bank nach Lublin. Alle Sperren konnte er mit seinen deutschen Papieren passieren. Auch aufgrund der guten Deutschkenntnisse dachten die Nazis, daß er ein Deutscher sei. Wenig später jedoch kam er nach Chodziez zurück. Er mußte feststellen, daß "alles in deutscher Hand war". Warum dann fliehen? In ganz Polen wurde das praktiziert, was das eigentliche Ziel Hitlerscher Kriegspolitik war: Gewinnung von "Lebensraum" für die "germanische Rasse". Noch während die Kämpfe um Warschau tobten (an Chodziez - damals 7600 Einwohner - war der Krieg vorbeigegangen), teilte Heydrich, Chef des Reichssicherheitshauptamtes, seinen Unterführern mit, wie die Nutzung Polens geplant war, nämlich "daß die ehemaligen deutschen Provinzen deutsche Gaue werden und daneben ein Gau mit fremdsprachiger Bevölkerung mit der Hauptstadt Krakau geschaffen wird." Riesige Umsiedlungs- und Säuberungsaktionen waren damit verbunden. Waren auch die militärischen Kämpfe an Chodziez vorbeigegangen, die Schreckenspolitik, die folgte, bekamen auch die Menschen in Chodziez schmerzlich zu spüren. Gleich im September unternahm die SS Razzia-Aktionen und nahm 45 Männer fest, "unsere besten Söhne": Lehrer, Pfarrer, Wissenschaftler, Politiker... Die Weisung kam wieder direkt aus dem Reichsicherheitshauptamt. Am 21. September hatte Heydrich befohlen, daß die Angehörigen der polnischen Führungsschicht "unschädlich gemacht werden... Die Einsatzgruppen haben Listen aufzustellen, in welchen die markanten Führer erfaßt werden, daneben Listen der Mittelschicht: Lehrer, Geistlichkeit, Adel, Legionäre, zurückkehrerende Offiziere usw." Einige Deutsche aus Chodziez mit nationalsozialistischer Gesinnung, so erzählte man sich damals, hatten dabei schon vorgearbeitet und für den Fall X selbstständig Listen angefertig. Am 7. November wurden die Gefangenen unweit von Chodziez erschossen und in ein Massengrab geschmissen. Ein Mann, der zufällig in der Nähe war, konnte - in einem Heuhaufen versteckt - dieses Drama beobachten. 1944 - die Deutschen befanden sich vor der Roten Armee auf dem Rückzug - öffneten deutsche Soldaten noch einmal die Massengrab und verbrannten die Leichen. Heute steht an dieser Stelle ein großes Denkmal.altefrau4

"Die primitiven Polen sind als Wanderarbeiter in den Arbeitsprozeß einzugliedern und werden aus den deutschen Gauen allmählich in den fremdsprachigen Gau ausgesiedelt." Auch die Umsetzung dieser Weisung Heydrichs bekamen die Menschen in Chodziez schmerzlich zu spüren. "Vor den Transporten hatten wir schreckliche Angst," erinnert sich Pelagia. "Sie kamen und verhafteten uns einfach auf der Straße. Viele Menschen hier saßen auf gepackten Koffern, weil man uns nur 15 Minuten Zeit zum Packen unserer Sachen ließ. Und ab ging es zum Bahnhof. Dort spielten sich schreckliche Szenen ab. Kinder weinten. Frauen wurden geschlagen. Familien wurden getrennt. Viele für immer." Die jungen und gesunden Menschen wurden in die Züge gepfercht und ins deutsche Reich gebracht. Dort wurden sie als Arbeitskräfte eingesetzt. Die Alten, Kinder und Kranken transportierte man ins "Generalgovernement", in den "fremdsprachigen Gau" (Heydrich), eine Art polnisches Reservat. Die Juden brachte man gleich ins Warschauer Ghetto.altefrau5

Einmal sah Pelagia auf dem Bahnhof eine Lehrerin, die von ihrem Mann getrennt werden sollte. "Bitte gebt mir meinen Mann, dann gehe ich!" flehte sie die SS-Soldaten an. Sie fand keine Gnade. Ein anderes Mal wollte eine Mutter als letzte Fürsorge noch ihr dreijähriges Kind anziehen. Sie kämpfte verzweifelt darum - ohne Erfolg. Viele der Verschleppten kamen aus Deutschland nicht wieder zurück. Die alte Frau wirkt traurig: "Viele Bomben, schrecklich!"

Für ein paar Minuten sitzen wir still. Jeder ist mit seinen Gedanken beschäftigt. Dann steht Pelagia auf. "Kommt!" Sie führt uns in ihr Schlafzimmer. "Seht dort!" Vor dem Fenster zeigt sie auf die Zimmerdecke. Unübersehbar sind dort 2 große Hakenkreuze auf dem Beton, mühsam mit weißer Deckenfarbe übertüncht, Reliquien, die genau wie die Zeit, aus der sie stammen, nicht einfach weggewischt werden können. "Hier hatte der Chef der SS in Chodziez seinen Arbeitsplatz. Hier wurden die Grausamkeiten am Schreibtisch geplant." Und Pelagia erzählt die Geschichte ihres Hauses. "1935 stellten wir dieses Haus fertig. Im August konnten wir es beziehen. Es war für die damalige Zeit ein recht schönes und stattliches Haus." Doch die Freude währte nicht lange. Kurz vor Weihnachten 1939 kam der Bürgermeister Peplinski, trotz des polnisch klingenden Namens Deutscher, Nationalsozialist und Sturmbannführer der SS (Pelagia: "Für uns war das der Hitler!"): "Es kommt eine deutsche Frau. Die hat Kinder und muß hier wohnen." Der drohende Rausschmiß konnte noch abgewendet werden. Doch dann kam es noch schlimmer. Wenig später stürmte die SS ins Haus. Pelagia: "Kein Sprechen mehr ... Schläge... und raus." Oben im Haus wurde ein großer Saal eingerichtet - mit Hitlerbild und Hakenkreuzfahnen. Einmal sei auch Himmler dagewesen und habe sich alles angesehen. Vielen Menschen in Chodziez erging es so in dieser Zeit. Sie mußten ihre Häuser für Deutsche räumen. Bombengeschädigte aus dem Reich fanden hier ein neues Quartier. Jede Aktion war ein kleines Drama, für die Familie, die ihr Haus verlor, für die Nachbarn, für Chodziez. Pelagia erinnert sich an einen alten Mann aus Chodziez. Er war Deutscher. Als er eine derartige Rausschmiß-Aktion mitansah, hat er bitterlich geweint - wie ein kleines Kind: "So viele Jahre haben wir hier zusammengelebt. Und jetzt dieses..." altefrau6

Pelagias Mann bot man eine Bescheinigung an, daß er Deutscher sei. Er hätte nach Deutschland fliehen können, aber er wollte nicht: "Ich bin Pole, und ich bleibe Pole." Pelagia wurde zur Arbeit bei ihrer ehemaligen Nachbarin verpflichtet. Sie war "Volksdeutsche". Auch heute noch ist sie ihre Nachbarin, eine der ganz wenigen Deutschen, die nach dem Krieg blieben. Die Nachbarschaft ist gut. Dennoch hat die damalige Zeit ihre Narben hinterlassen.

Auch die Tochter wurde zur Zwangsarbeit verpflichtet. Kurz hinter der Grenze zum deutschen Reich mußte sie auf einem Bauernhof arbeiten. Zunächst sollte sie nach Kiel in eine Munitionsfabrik. Diese jedoch wurde kurz vorher durch die Engländer bombardiert. Also kam sie auf den Bauernhof nicht weit von Chodziez entfernt. "Ich wurde schlecht behandel," erinnert sich Romualda Wozniak. "Ich mußte schwer arbeiten. 15 Jahre war ich doch erst. Keiner fragte, ob ich das konnte." Noch heute hat sie von der schweren Arbeit gesundheitliche Schäden. Einmal im Monat durfte sie für einen Tag nach Hause. Den Weg mußte sie allein und zu Fuß gehen. Die Bahn konnte sie nicht nicht benutzen. "Ich war Polin." Mit viel Weinen trat sie dann abends wieder den Rückweg an. "Ich war doch noch ein Kind!" Später ging es ihr dann besser auf dem Hof. Sie fand Familienanschluß. Noch heute hat sie Kontakt zu den Deutschen, die in den letzten Kriegsmonaten nach Hannover flohen und dort heute noch leben. "Wir sind heute Freunde!"altefrau7

Am 20. Januar 1945 kamen dann die Russen nach Chodziez. Die Deutschen hatten sich schon auf die Flucht vor der Roten Armee vorbereitet. Für die SS stand auf dem Bahnhof ein Panzerzug bereit. Doch die russichen Soldaten waren schneller als erwartet in Chodziez. Die SS konnte nur noch mit kleinen Koffern fliehen. Ihre großen Pläne ("Sie wollten noch viele Menschen wegschaffen!") konnte sie nicht mehr vollenden.

Verständlich, daß bei der Ankunft der Russen die Freude auch in Chodziez zunächst groß war. "Wir waren so froh, daß der Krieg nun vorbei war. Die Soldaten der Roten Armee waren für uns die Befreier." Doch auch Pelagias Freude währte nicht lange. Bald schon mußten sie mitansehen, daß die Russen wie die Vandalen hausten, ständig betrunken, plündern, vergewaltigend. "Die dachten, hier wäre schon alles deutsch, wir wären alle Deutsche. Sie waren wie die Tiere!"altefrau8

Der Nachmittag geht seinem Ende zu. Die Geschichte steht zwischen uns. Das ist deutlich zu spüren. Aber sie trennt uns nicht. "Die älteren Leute reden noch viel über diese Zeit!" Zum Abschied reicht uns Pelagia die Hand. "Aber für unsere Jugend ist das Geschichte. Sie baut eine neue Zukunft auf, gemeinsam und in Freundschaft mit Euch." Das ist tatsächlich in Chodziez zu spüren, gerade auch in dem Bemühen um eine Partnerschaft mit Nottuln. Dennoch - Narben hat die Geschichte hinterlassen. Zumindest noch bei den alten Menschen, denen auch unsere Aufmerksamkeit bei allem Bauen auf die Zukunft gelten muß. "Eure Wiedervereinigung", gesteht Pelagia uns zum Schluß, "hat uns Alten tatsächlich schwer zu schaffen gemacht. Wir glauben nicht, daß sich die Geschichte wiederholt. Aber wir haben einfach ein bißchen Angst..."

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